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Demografie - deutsche Städtchen retten ...

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02.05.12
Bevölkerungsrückgang
Wie Holländer eine hessische Fachwerkstadt retten
Der Ort Wanfried in Hessen verkauft leer stehende Häuser an Interessenten aus dem Nachbarland. Dank der investitionsfreudigen Neubürger wurde der Bevölkerungsschwund der Kleinstadt deutlich gebremst.

Von Fabian Hartmann


© Helena Schätzle
"Das ist wunderbar": Die Niederländerin Ellen Holland und ihr Freund John de Vrengol wollen nach Wanfried auswandern. Seit zwei Jahren renovieren sie ihr Fachwerkhaus


Bevölkerungsschwund: So kämpfen sterbende Dörfer gegen den Niedergang
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Sie wollten es ja so. Und sie wussten, worauf sie sich einlassen: Dass durch die schmalen Fenster nur wenig Tageslicht fällt. Der knarzende Fußboden. Und die niedrigen Decken, die von schweren Querbalken gestützt werden. "Das ist doch wunderbar", sagt Ellen Holland.

So sieht für sie Deutschland aus: ein altes Fachwerkhaus auf dem Land. Umgeben von Wäldern und Wiesen. Die 42-Jährige sitzt mit ihrem 49 Jahre alten Freund John de Vrengol auf dem Sofa im Wohnzimmer. Der einzige Raum, der bisher fertig renoviert ist. Noch ist das Haus eine Baustelle. Schutt und Staub bedecken die obere Etage. Seit zwei Jahren ist das Paar mit dem Umbau beschäftigt.

Sie reißen Wände heraus, legen neue Leitungen, dämmen die Räume. "Wir sind dabei, uns einen Traum zu erfüllen", sagt Holland. Und der führte sie ins Ausland. Das Paar kommt aus dem Westen der Niederlande. Beide sind selbstständig. Kinder haben sie keine.

Wanfried in Hessen
Dafür aber genug Geld, um auszuwandern. Im Internet stieß John de Vrengol eines Tages auf eine Anzeige – Fachwerkhäuser werden da beworben, mitten in Deutschland gelegen. Bereits ab 15.000 Euro stehen sie zum Verkauf. Ellen Holland wählte die deutsche Telefonnummer. Und landete bei Wanfrieds Bürgermeister Wilhelm Gebhard (CDU).

Niedrige Preise, malerische Landschaft

Der Kommunalpolitiker pries den Anrufern die Vorzüge seiner Stadt an: niedrige Preise, malerische Landschaft, reges Vereinsleben. Ellen Holland war neugierig. Und wurde ein paar Tage später im Dezember vom Bürgermeister im Rathaus der Stadt begrüßt. "Er hat uns durch die ganze Stadt geführt", erzählt Holland.

Sie war begeistert von den Schnitzereien an den Häuserfassaden, den Radwegen. Und dem kleinen Hafen, an dem sich die Werra vorbei schlängelt. Im Stadtteil Völkershausen zeigte ihnen Gebhard ein Grundstück mit Wohnhaus, zwei Scheunen und großem Garten.

Holland und de Vrengol berieten sich mit Familienmitgliedern, zeigten ihnen das Haus. Und kauften es. Nicht nur für den Eigengebrauch: Drei Ferienwohnungen sollen darin zusätzlich entstehen. Ellen Holland sagt, dass ihr Freund und sie noch 75.000 Euro in den Umbau stecken müssen. Mindestens.

Jährlich 100 Einwohner weniger

In einem Ort wie Wanfried ist das eine beachtliche Summe. Die Kleinstadt mit 4200 Einwohnern liegt im nordhessischen Werra-Meißner-Kreis. Ehemaliges Zonenrandgebiet. Bis nach Thüringen sind es nur wenige Kilometer. Landschaftlich ist die Region reizvoll. Aber auch ökonomisch abgehängt: Die Euphorie, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Wanfried herrschte, war schnell verflogen.

Die Subventionen flossen schnell in den Osten. 1990 hatte die Stadt 1312 Arbeitsplätze. 15 Jahre später waren es nur noch 660. Die Jungen wanderten ab – in die Ballungsräume, die Arbeit und Einkommen versprachen.

Jährlich schrumpfte Wanfried um 100 Einwohner, weshalb immer mehr Häuser leer standen. Weil niemand da war, der die oft Jahrhunderte alten Gebäude kaufen und instand setzen wollte. Ganze Straßenzüge drohten zu verwaisen, allein im Zentrum standen 21 Häuser leer.

Holländer suchen erschwinglichen Wohnraum
Doch in Wanfried gab es immer noch bürgerschaftliches Engagement. So schlossen sich Bürger, die den Verfall der einst stolzen Handelsstadt nicht hinnehmen wollten, 2006 zusammen. Die zwölf Mitglieder der Gruppe dokumentierten den Leerstand. "Es ging darum, die Fachwerkhäuser vor dem Abriss zu retten", erklärt ihr Sprecher Jürgen Rödiger.

Architekten wurden beauftragt, zu berechnen, was in die Häuser investiert werden muss – um so potenziellen Käufern die Angst vor dem Fachwerk nehmen. Man vernetzte sich zudem mit Wanfrieder Handwerkern und fungierte fortan als erster Ansprechpartner für Interessenten.

Und die kamen aus Holland: Ein niederländisches Ehepaar, das zu Besuch in der Stadt war, machte die Bürgergruppe auf die zahlungskräftige Klientel im Nachbarland aufmerksam. Der niederländische Immobilienmarkt sei überhitzt, Eigentum kaum erschwinglich. Anders als in Wanfried. Als der Bürgermeister davon erfuhr, verabredete er sofort ein Treffen mit dem Ehepaar.

Die beiden erzählten ihm vom Wunsch ihrer Landsleute nach erschwinglichem Wohnraum. Und von der Begeisterung für deutsches Fachwerk. Sie rieten ihm, die Wanfrieder sollten ihre Häuser auf dem Internetportal "marktplaats.nl" vermarkten.

Und damit war die Geschäftsidee geboren: Die Bürgergruppe lieferte Bilder und Texte, die Niederländer übersetzten sie und stellten sie online. 2009 startete das Projekt. Innerhalb der ersten drei Monate verzeichnete die Seite 4000 Klicks.

Wer "Fachwerk" sucht, landet in Wanfried
So kam auch das Ehepaar Nijenhuis nach Wanfried. 2009 kauften sie im Ortsteil Aue ein Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert. Für 10.000 Euro. Auf einer Autofahrt durch Deutschland waren sie auf die Region aufmerksam geworden. Und auf die historischen Häuser, die das Bild der Städte und Dörfer prägen. Am heimischen PC suchte Albert Nijenhuis nach "Fachwerk". Und landete in Wanfried.

Zusammen mit seiner Frau nutzt er die Immobilie heute als Ferienhaus. Das Ehepaar sagt, dass es anfangs skeptisch gewesen sei. Der Preis erschien ihnen anfangs zu niedrig. Doch Holländer, die bereits in Wanfried wohnten, rieten ihnen dazu. Daraufhin kauften die Nijenhuis die Immobilie.

Allein im Zentrum haben vier holländische Familien Häuser gekauft. In der ganzen Stadt sind es zehn. Die Käufer sind 40 bis 60 Jahre alt, erfolgreich im Beruf und finanziell unabhängig. Einige nutzen die Häuser als Zweitwohnsitz, andere leben in Wanfried. So hat sich eine kleine holländische Gemeinschaft gebildet.

"Holland – ein Nachbar rückt näher"
Bürgermeister Gebhard sagt, dass sich die Atmosphäre in der Kleinstadt verändert habe. "Leerstand drückt natürlich auf die Stimmung", sagt er. Doch nach Jahren des Niedergangs herrsche wieder so etwas wie Aufbruchsstimmung. Die Wanfrieder sind froh, dass ihre geschichtsträchtigen Häuser nicht verfallen.

Denn die Alternative hieße Abriss, irgendwann. Haus für Haus wäre die Stadt gestorben. Im vergangenen Jahr begrüßte Wanfried seine neuen Einwohner ganz offiziell: Das Schützenfest stand unter dem Motto "Holland – ein Nachbar rückt näher". Ganz in orange schmückte sich die Stadt. Und die Niederländer feierten natürlich mit.

Die Neubürger haben bisher knapp eine Million Euro in die Herrichtung der Fachwerkgebäude investiert, erzählt Gebhard. Geld, das neu nach Wanfried gekommen ist. "Im Schnitt investieren die Käufer zwischen 40.000 und 50.000 Euro pro Haus", sagt der Bürgermeister. Das Gewerbesteueraufkommen der Stadt sei in den letzten drei Jahren von 250.000 auf 500.000 Euro gestiegen.

"Hier gibt es keinen Fluglärm"
Die Bürgergruppe hofft nun, auch Menschen aus den deutschen Ballungsräumen von der Schönheit Wanfrieds überzeugen zu können. "Hier gibt es keinen Fluglärm und die Natur beginnt direkt vor der Haustür", sagt Sprecher Rödiger. Er selbst hat 30 Jahre in Krefeld gearbeitet. Und kam im Ruhestand zurück nach Nordhessen.

Doch lassen sich Menschen aus Hamburg, Frankfurt und Köln von niedrigen Immobilienpreisen und schöner Natur überzeugen? Opernhäuser, Theater und Feinkostläden können Städte wie Wanfried nicht bieten. Prognosen des Landes Hessen gehen davon aus, dass der nordöstliche Werra-Meißner-Kreis bis zum Jahr 2050 um 40 Prozent schrumpfen wird.

Der Sozialwissenschaftler Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung vergleicht die Landstriche im ehemaligen Zonenrandgebiet mit ostdeutschen Schrumpfregionen: "Neue Arbeitsplätze entstehen in den urbanen Zentren."

Demografischer Wandel schwappt in den Westen

Der demografische Wandel, der weite Teile des Ostens erfasst hat, schwappt in den Westen rüber. Und frisst sich durchs ganze Land: Je weiter eine Region von den Großstädten entfernt liege, desto schwerer werde es, den Bevölkerungsrückgang abzubremsen.

Kröhnert glaubt dennoch, dass auch abgelegenere Regionen die Chance haben, sich zu stabilisieren. Wichtig seien Infrastruktur: Straßen, Schulen, Kulturangebote. Genauso wichtig sei es, die eigene Heimat mit Stolz zu vertreten.

Wanfried scheint auf einem guten Weg: Auch die innerdeutsche Vermarktungsoffensive zeigt erste Erfolge. So haben bereits zwölf deutsche Familien Häuser gekauft. Der Bevölkerungsrückgang hat sich deutlich verlangsamt. Noch immer schrumpft die Einwohnerzahl der Stadt. Aber nur noch um etwa 15 Einwohner pro Jahr.

Zugleich ist wieder Bewegung nach Wanfried gekommen – durch Neubürger, die vor ein paar Jahren noch undenkbar schienen. So wie Ellen Holland und ihr Freund John de Vrengol. Der betreibt zwar noch eine Werkstatt in den Niederlanden. Doch die wird er verkaufen, sobald das Haus in Wanfried fertig saniert ist. Dann wären seine Freundin und er endgültig angekommen. In ihrer neuen Heimat.

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source: http://www.welt.de/politik/deutschl...nder-eine-hessische-Fachwerkstadt-retten.html
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1 - 20 of 1017 Posts
es gibt so Beispiele auch mit Englaendern, Polen, der eine oder andere Asiate, Ami usw...
auch ein Beispiel, wo es eigentlich laengst vernuenftig waere, die gesamten gefaehrdeten Kleinstaedte zu internationalisieren. Englisch-sprachige Zweitbeschilderung usw..., danach dann radikal saemtliche gefaehrdete deutsche Staedtchen 'international' anbieten ...
Schoene alte Architektur, mittem im Zentrum Europas zu Wahnsinnspreisen ...
So liesse sich womoeglich, erst recht wenn sich das rumspraeche (eine Art Hype erzeugen), sehr vieles retten. Die Alternative waere: Verfall ...
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Aber sicher doch... :|
wir retten eh schon viel zu viel und dann steht die halbe renovierte stadt leer (siehe görlitz)
ne ne, trance hat da ja schon mal einen guten Vorschlag geäußert, würde man heute 50 Millionen Chinesen einreisen lassen und englisch als Amtssprache einführen, wir hätten keine Probleme.
Letztlich führt das Denken defizitärer Menschen zu Ungleichgewichten. Dies ist stets der Fall, wenn Öko-Sozialisten ihr Gedankengut verbreiten. Es ist nicht nachvollziehbar, wenn man an überkommenen Gedankenbildern hängt. Die Ausweitung der Internationalisierung erzeugt Synergien. Man sollte dies nutzen.
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^

:cheers1::rock:super post ! bin ja noch nicht so lange hier, aber den habe selbst ich schon verstanden :D
El Oh el!
Was die Polen angeht: So mancher Pole aus Zgorzelec kauft lieber ne Wohnung in Görlitz, weil günstiger. Polnische Familien aus Stettin kaufen/bauen sich ihr Haus auf der deutschen Seite in der Uckermark, weil günstiger. Und gleichzeitig pendeln Deutsche aus der Uckermark zur Arbeit nach Stettin, selbst wenn das Gehalt kaum über Hartz4+Zulagen-Niveau hinausgeht.
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Was die Polen angeht: So mancher Pole aus Zgorzelec kauft lieber ne Wohnung in Görlitz, weil günstiger. Polnische Familien aus Stettin kaufen/bauen sich ihr Haus auf der deutschen Seite in der Uckermark, weil günstiger. Und gleichzeitig pendeln Deutsche aus der Uckermark zur Arbeit nach Stettin, selbst wenn das Gehalt kaum über Hartz4+Zulagen-Niveau hinausgeht.
Finde ich sehr gut, wenn die Grenzbevölkerungen so wieder näher zusammen wachsen !
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hilft nix: die noch am meisten realistische Moeglichkeit, moeglichst viele der alten Staedtchen zu retten, liegt darin, weltweit als internationale Community und internationale Immobilienschnaeppchen im Herzen Europas im Sinne eines Klischees eines alteuropaeischen/deutschen 'Landlebens' (moeglichst immer mal mit Assoziationen a la Rollenspiel/Lord of the Rings usw.) zu vermarkten: die gesamte Situation quasi zur Disposition zu stellen, damit sich das Hype artig verbreitet ...

'international' weil das unterschiedlichste Hemmschwellen senkt. ein Kanadier, Brasilianer, Chinese, Ami, Franzose, der nebenbei mitkriegt, dass er dort mitten in Europa quasi auf eine internationale Community trifft, hat schon durch diese Assoziation geringere Hemmschwellen ... lauter kleine Dinge, die etwas erfolgreicher machen koennen ...
anders kriegt man keine relevante Masse ... man muesste das insgesamt total puschen und eben intelligent vorbereiten ...
aehnlich vielleicht wie die Toscana oder Provence in Frankreich ... es bedarf eines Labels fuer das ganze ..

es werden naemlich nicht klassische Einwanderer im grossen Stile sein, die dorthin ziehen, da die in die Ballungsgebiete gehen. und es werden auch nicht mehr wie frueher deutsche nachwachsende Jugendliche sein, da die ebenfalls in die Ballungsgebiete ziehen und immer weniger werden ...

falls derlei sogar nicht moeglichst schnell getan wird, wird es ein riesiges Kirchensterben geben (hat eh schon angefangen). ohnehin immer mehr Fachwerkhaeuser und sonstige alte Haeuser, immer mehr alte Brunnenanlagen. es werden alte Stadttore sterben, alte Muehlen, alte Wassertuerme, alte Ratshaeuser, Friedhoefe, womoeglich auch immer mehr Burgen und Schloesser, Herren-, Landhaeuser und vieles mehr. Denn das wird vorhersehbar von der Infrastruktur und sonstwie her zu teuer alle zu erhalten, selbst wenn dort noch Menschen leben ...

Der Grund weshalb es in den USA so einige Geisterstaedte gibt bzw. auch laengst zerfallende neuere Orte (trotz positiver Demographie) hat auch mit einem grundsaetzlichen weiteren Wandel zu tun zu mehr Mobilitaet, weitere Verstaedterungen/Verballungsraeumungen (g). Moderne Zeiten und Restrukturierungen, die in den USA lediglich aufgrund groessere Mobilitaet schneller stattfinden. Aber auch in Teilen Osteuropas usw. findet das bereits seit geraumer Zeit statt. Daraus koennte man lernen, zumal in Germany noch die demographische Geschichte staerker hinzukommt ...


http://www.wfg-gk.de/swarumbild2.jpg ..... http://www.baltische-rundschau.eu/wp-content/uploads/2009/10/landostpr1.jpg ...http://www.wfg-gk.de/swarumbild3.jpg
left: verfallende Häuser aus dem Jahre 1670 ..... right: verfallendes Haus aus dem Jahre 1703 (Wismar)
more/source: http://www.wfg-gk.de/warum24.html

Wem derlei wichtig ist, der sollte das also etwas ernster nehmen ... *so empfehl


http://mw2.google.com/mw-panoramio/photos/medium/61529441.jpg
(verfallende Villa / Heiligendamm)
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:cheers1::rock:super post ! bin ja noch nicht so lange hier, aber den habe selbst ich schon verstanden :D
dass das selbst fuer eine Pointe schlecht zusammengesampelt war, fiel Dir aber nicht auf? ;)
Demographie: der Sensemann sichelt sich durch Germany ...

23.04.2011

Demografie
Tod auf Raten

Von Matthias Bartsch, Andrea Brandt, Simone Kaiser, Maximilian Popp, Antje Windmann und Steffen Winter



Die Entvölkerung ganzer Landstriche hat den Westen erreicht, Randgebiete und alte Industriestandorte verkümmern. Wie in Ostdeutschland werden die Regierenden ihre Förderpolitik auf wenige Vorzeigeregionen konzentrieren müssen - mit dramatischen Folgen für das platte Land.


Bloß nicht aufregen - das Herz. Seine Frau schaut schon besorgt um die Ecke. Seit dem Infarkt im vergangenen September muss Josef Daum aufpassen. Aber das ist leicht gesagt. Er ist Bürgermeister von Nordhalben im bayerischen Frankenwald. Wie soll man sich da nicht aufregen?

Allein die Zahlen. 85 von 820 Häusern stehen leer. Früher lebten hier 3000 Menschen, jetzt sind es 1900. Die alten Leute sind gestorben, niemand kam nach. "Und da drüben", Daum zeigt auf ein mintgrünes Einfamilienhaus, "da wohnt auch keiner mehr."
Die Großbäckerei ist in den Osten gezogen, vor der einstigen Gartenmöbelfabrik wuchert der Löwenzahn, im letzten Jahr hat Edeka dichtgemacht, die Bahnlinie gibt es seit 1994 nicht mehr.

Und dann das Geld. Die meisten Zuweisungen des Staates sind an die Einwohnerzahl gekoppelt, und die Menschen wandern nun einmal ab. Nordhalben hat sich für seinen Verwaltungshaushalt 3,5 Millionen Euro pumpen müssen. "Wir nehmen jetzt Kredite auf, um unsere Kredite zu bezahlen", stöhnt Daum, "in der Wirtschaft ist das eine klassische Insolvenz." Ach ja, und seine Tochter ist inzwischen nach München gezogen. Weil es da Arbeit gibt.


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Kriegserklärung an die Provinz
Nordhalben ist ein sterbendes Gemeinwesen. Obwohl es in Bayern liegt. 3,5 Milliarden Euro hat der Freistaat gerade wieder an ärmere Bundesländer überwiesen. Als Land mit der höchsten Kaufkraft, dem größten Wirtschaftswachstum, der niedrigsten Arbeitslosenquote und dem größten Selbstbewusstsein.

Und doch - Bayern erodiert. Für die Schweizer Wirtschaftsforscher von Prognos ist es bereits jetzt das Land "mit den größten Disparitäten zwischen den einzelnen Regionen". Hier die Schickeria, dort die "Problemlagen". In München explodierende Immobilienpreise, in Nordostbayern steigende Landflucht.

Es ist ein Spiegelbild der grandiosen Landschaft: hohe Berge, tiefe Täler.
Die Politik kann kaum noch gegensteuern. Ministerpräsident Horst Seehofer hat einen "Zukunftsrat" mit dem Problem betraut, und dessen Ratschläge versetzen seit Wochen ganze Volksstämme in Aufruhr. Der frühere CSU-Chef Erwin Huber beschwört den "Selbstbehauptungswillen" seiner Landsleute, der Passauer Landtagsabgeordnete Konrad Kobler wütet gegen die drohende "Liquidation Niederbayerns", die Liberalen fürchten eine "Kriegserklärung an die Provinz".

Leerstände ruinieren die Kommunen
Was ist passiert? Der Seehofer-Rat hat vorgeschlagen, "potente Städte" sollten zu überregionalen Leistungszentren ausgebaut werden. Fördergelder müssten in diese "Cluster" fließen und weniger ins weite Land. "Weitermachen wie bisher" könne keine Option mehr sein. "Spezielle Gebiete" sollten sich schon mal grenzübergreifend "orientieren": Oberfranken müsse mit Sachsen zusammenarbeiten, Passau mit Österreich, Würzburg mit Frankfurt. Die "speziellen Gebiete" haben die Botschaft verstanden: Sie fühlen sich aufgegeben.

Es ist ein Gefühl, das in Deutschland um sich greift. Die Verödung ganzer Landstriche, lange Zeit ein Phänomen im Osten Deutschlands, hat den Westen still und leise erreicht. In 38 von 324 westdeutschen Regionen überwiegen laut Prognos inzwischen die Zukunftsrisiken die Zukunftschancen. Die Zahl hat sich in den vergangenen drei Jahren mehr als verdoppelt. Randgebiete in Hessen, Niedersachsen und Bayern fallen immer weiter zurück, alte Industriestandorte wie im nördlichen Ruhrgebiet werden wohl schwer wieder auf die Beine kommen. Leerstände ruinieren die Kommunen, die zudem auch noch vergreisen.

Deutschland schrumpft - allein in den vergangenen acht Jahren um 770.000 Menschen. Seriöse Studien prophezeien, dass es in 50 Jahren bis zu 17 Millionen Deutsche weniger geben wird als heute. 2060 wird jeder Siebte zudem 80 oder älter sein. Zuwanderer, die den mangelnden Fortpflanzungswillen der Deutschen bisher ausgeglichen haben, bleiben aus. Seit 2008 verlassen mehr Menschen das Land als neu dazukommen.

2. Teil: Auf dem Land steht höchstens noch das Ferienhaus
Für strukturschwache Regionen ist diese Entwicklung der Todesstoß. Junge Menschen drängen seit je in die Städte, doch jetzt zeichnet sich ein echter Kulturwandel ab. Die Protagonisten der Wissensgesellschaft zieht es stärker als früher in die Metropolen und mit ihnen auch viele Unternehmen, die sich einen erbitterten Wettbewerb um die besten Köpfe liefern. Der gutausgebildete Nachwuchs will die Oper in der Nähe, Bundesliga-Stadion, Mehrspartentheater, Edel-Boutique, Sushi satt und Spitzenköche. Auf dem Land steht höchstens noch das Ferienhaus.

Die Städte können sich über mehr Steuereinnahmen freuen, während die Provinz finanziell verdorrt. Selbst die Alten, deren Anteil immer weiter steigt, werden den Trend nicht aufhalten. Zwar mögen die rüstigen Pensionäre die ländliche Idylle, doch noch mehr steht ihnen der Sinn nach Apotheken, Ärzten und ortsnahen Geschäften. Von Ruheständlern können höchstens noch Kleinstädte profitieren.

Die Re-Urbanisierung schlägt sich in den Statistiken nieder: Drei Viertel jener Regionen, die heute mehr als ein Prozent Bevölkerung gewinnen, sind kreisfreie Städte. Sie wachsen und mit ihnen ihre Speckgürtel. In Starnberg vor den Toren Münchens liegt das verfügbare Einkommen inzwischen bei 157 Prozent des deutschen Mittelwerts. Im vorpommerschen Uecker-Randow sind es nur noch 73 Prozent.

Bergbau, Stahlindustrie, Schiffbau und die klassischen Fertigungsindustrien waren im vergangenen Jahrhundert das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Deren Niedergang markiert den Anfang vom Ende - vor allem in der Provinz. Zuerst verfällt die Fabrik, dann schließen die Geschäfte, erste Häuser stehen leer, der Nachwuchs wandert ab, die Rentner bleiben sich selbst überlassen.

Wie in Ostdeutschland muss sich die Politik nun auch im Westen entscheiden, die Fördermittel weiterhin in verlorene Regionen zu pumpen oder sie den Wölfen zu überlassen. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung kommt zu dem Schluss, dass es aus "finanziellen und ökologischen Gründen" nicht sinnvoll sei, in dünnbesiedelten Regionen flächendeckend Infrastruktur zu erhalten. In bestimmten Gebieten solle die Landflucht sogar gezielt gefördert werden. "Denn weniger Menschen werden in Zukunft auch in weniger Orten leben." Kleine, vom Verkehr abgeschnittene Dörfer würden irgendwann aufgegeben.


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Die Politik habe zu lange Illusionen verbreitet
Womöglich wird Rambach so ein Ort sein, Rambach in Nordhessen. 1995 gewann es den bundesweiten Wettbewerb "Unser Dorf soll schöner werden". Ein altes Holzschild am Ortseingang erinnert an den großen Triumph, der zeigte, dass doch etwas wachsen kann, so kurz hinter dem einstigen Todesstreifen zur Deutschen Demokratischen Republik.

Als Streckmetallzaun und Selbstschussanlagen verschwanden, sanierten sie ihre Fachwerkhäuser am einstigen Zonenrand, stellten neue Straßenlaternen auf, bauten ein Dorfgemeinschaftshaus. Rambach, Ortsteil der Gemeinde Weißenborn, lag plötzlich in der Mitte Deutschlands, im Zentrum Europas. Und fühlte sich als Nabel der Welt.

Eine Rundfahrt durch Weißenborn ist noch heute ein Erlebnis. Bürgermeister Friedhelm Kerl sitzt am Steuer seines Kleinwagens, zeigt abwechselnd nach links und nach rechts. "Das Haus da steht leer", sagt er, "und das ist leer, das da hinten ist leer und das da auch." In Rambach geht es scharf nach links, dann quietschen die Bremsen: "Und in dieser Straße wird demnächst überhaupt niemand mehr wohnen."

Kerl ist jetzt Mitte 50. Er hat 1993 im Überschwang ein neues Haus auf die grüne Wiese gebaut. "Viel würde ich heute nicht mehr dafür kriegen", knurrt er resigniert. 16 Jahre nach der Goldplakette können sie in Weißenborn nur noch eines sanieren: den Haushalt. Kerl firmiert, zur Entlastung der klammen Gemeindekasse, als letzter ehrenamtlicher Bürgermeister Hessens. In seinem Schreibtisch liegen bedrohliche Statistiken. 404 Wohngebäude gibt es, jedes zehnte davon ist leer. Die Einwohnerzahl schrumpfte in den letzten 15 Jahren um 15 Prozent auf 1215.

Die Folge einer jahrelangen Verdrängung
In den kommenden Jahren geht es erst richtig bergab. Nach einer Prognose des Hessischen Rechnungshofs soll sich die Zahl der potentiell steuerzahlenden Weißenborner im arbeitsfähigen Alter bis 2050 mehr als halbieren. "Gruselig", jammert der Bürgermeister. Schon jetzt stechen ihm die Folgen der Landflucht in die Nase. Die Abwasserkanäle drohen zu verstopfen, weil nicht mehr genug Bewohner den Wasserhahn aufdrehen. Manchmal streikt die Kläranlage, weil die Bakterien nicht genug Futter bekommen.

Noch gibt es wenigstens eine Grundschule, doch die muss jahrgangsübergreifend unterrichten, um die Klassen zu füllen. Lange geht das nicht mehr gut.

Dabei ist die Furcht, die sich in den westdeutschen Randgebieten breitmacht, vor allem die Folge einer jahrelangen Verdrängung. Im Westen hätten Politiker das Problem lange nicht ernst genommen, glaubt Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut. Düstere Bevölkerungsprognosen seien über Jahrzehnte missachtet worden. Zunächst fiel das keinem auf, weil sich nach 1989 viele Ostdeutsche in Orten wie Weißenborn ansiedelten. Fast zwei Millionen Menschen sind per saldo von Ost nach West gezogen. Jetzt ist der Trend rückläufig.

Inzwischen ist die Politik alarmiert. Bis zum nächsten Jahr will die Bundesregierung eine "Demografie-Strategie" erarbeiten, eine Art Notfallprogramm gegen Bevölkerungsschwund. Und noch im Herbst soll das Bundesinnenministerium ein Konzept zum Eingrenzen der Landflucht präsentieren.

3. Teil: Am Ende ist das nur Sterbehilfe
Es gibt Regionen in Deutschland, in denen Experten inzwischen am Kies bestimmen können, wie es um ein Dorf bestellt ist. Otmar Weber ist so ein Fachmann. Seit 30 Jahren ist der Saarländer im Staatsdienst, auf seiner Visitenkarte steht "Leiter Agentur Ländlicher Raum". Mit rotem Schal steht er vor einem Haus und zeigt auf die Kieselsteine im Vorgarten. "Da wohnen wahrscheinlich Leute über 60, die mit der Gartenarbeit bald überfordert sein werden." Deshalb hätten die Besitzer schon mal kleine Steine eingestreut, das ist pflegeleicht und sieht trotzdem ordentlich aus.

So wird die Kiesmenge zu einem Indikator für den Altersdurchschnitt eines Dorfes, zum Menetekel des beginnenden Verfalls.

Weber hält inzwischen bundesweit Vorträge zum Thema. Er hat sogar eine eigene Sprache entwickelt, um dem Tod auf Raten seinen Schrecken zu nehmen. Der 56-Jährige spricht vom "kreativen Abriss" und verkündet den großartigen Slogan: "Mehr Dorf für weniger Menschen."

Weber ist ein gefragter Mann. Seit Jahren liegt in den saarländischen Vorgärten immer mehr Kies. Auch in Neuweiler bei Sulzbach gibt es jede Menge davon, während andere Dinge in dem Ort rar geworden sind. "Wir hatten mal ein Schuhgeschäft, Lebensmittelläden, zwei Tankstellen", zählt Michael Kleinz auf, "die Grundschule wurde schon vor Jahren geschlossen, und da hinten war mal ein Tapetengeschäft."

Ein Trend ist gesetzt, das Ende vorbestimmt
Der Betriebswirt ist Vorsitzender der Siedlergemeinschaft "Brennender Berg", er hat Weber zu einem Besichtigungstermin gebeten. Es ist kalt. Nieselregen dringt langsam durch die Jacken. Auf dem verwilderten Bouleplatz, auf dem sie mit hochgezogenen Schultern stehen, rollt seit Jahren keine Kugel mehr, der verlassene Festplatz ist inzwischen ein Parkplatz. Früher, murmelt Kleinz in die Kälte, habe es viele und große Feste in Neuweiler gegeben. Jetzt gibt es nicht mehr viel zu feiern. "Was fühlen Sie, was Ihrem Dorf fehlt?", fragt Weber vorsichtig. Kleinz zuckt mit den Schultern: "Wir vergreisen einfach."

Die Symptome sind wie überall auf dem flachen Land. Erst gibt es nicht genug Arbeit vor Ort, die Menschen pendeln. Auf dem Weg kaufen sie ihre Lebensmittel ein, die Geschäfte im Dorf schließen. Die Vereine lösen sich auf, der Zusammenhalt schwindet. Die Ersten wandern ab. Ein Trend ist gesetzt, das Ende vorbestimmt.

Für Weber ist Neuweiler ein typischer Fall. Im ganzen Saarland wird die Bevölkerung bis 2030 um 130.000 Einwohner auf 890.000 Menschen schrumpfen, so schnell wie in keinem anderen Bundesland. Auch Weber kann keine Wunder vollbringen. Er kann 3000 Euro als eine Art Soforthilfe vom Wirtschaftsministerium vermitteln - vorausgesetzt, die Dörfler steuern selbst Ideen und Arbeitsstunden bei. Für ein Seniorencafé oder einen Dorfladen. Für einen Rosenpavillon oder eine neue Parkanlage. Hauptsache, die Bänke haben bequeme Rückenlehnen. Für die betagten Spaziergänger.

"Bayern wird München"
Doch am Ende ist das womöglich nur Sterbehilfe. Hatte nicht der Westen immer wieder gefragt, ob es wirklich Sinn ergebe, ständig neue Fördergelder in die verlorenen Regionen des Ostens zu pumpen? Und jetzt soll es ausgerechnet in Bayern, einem der Kernländer der alten Bundesrepublik, genauso geschehen? Denn Seehofers Zukunftsrat fasst die Lage so zusammen: "Bayern wird München." Die Gruppe um den früheren McKinsey-Chef Herbert Henzler rechnet vor, dass 23 Prozent des bayerischen Bruttoinlandsprodukts in der Landeshauptstadt erwirtschaftet werden. Solche Metropolregionen müssten gezielt gefördert werden.

Und auf dem Land gehen die Lichter aus. Der Berliner Demografie-Forscher Kröhnert sieht voraus, dass "teure Abwasserkanäle für Orte mit 20 Rentnern wirtschaftlich untragbar sind". Die Politik habe zu lange die Illusion verbreitet, gleiche Standards im ganzen Land gewährleisten zu können.

Im saarländischen Illingen wird bereits der Untergang zelebriert. "Jeden Abriss eines Schandflecks machen wir zu einem Event", frohlockt Bürgermeister Armin König, ein Mann mit Meckischnitt und Knopf im Ohr. Es gibt ein Fest mit Freibier, und alle Nachbarn packen mit an.

König hatte sein Erweckungserlebnis, als eine Studentin für ihre Diplomarbeit die leeren Häuser der Stadt zählte. Sie kam auf fast hundert. Der Bürgermeister beschloss, "nichts mehr schönzureden". Seither liegen im Rathaus Karten mit kleinen roten Klebepunkten und lila Quadraten. Rot sind alle Häuser, in denen der jüngste Bewohner 70 oder älter ist. Lila bedeutet Leerstand. Jetzt geht es um Abriss und nicht mehr um Neubau.

Illingen 2030 bedeutet für König 4000 Einwohner weniger. Statt 20.000 nur noch um die 16.000. Er beschäftigt jetzt eine Leerstandsmanagerin. Sie verhandelt mit Eigentümern, klärt Rechtsfragen, damit die Bagger rollen und Wände fallen können. 16 Gebäude wurden bereits abgeräumt.

4. Teil: Übermäßige Härte nennen das die einen, Realismus die anderen

Es ist diese zupackende Art, die auch von jenen Experten empfohlen wird, die das Große und Ganze im Blick haben. Henzler, der Ex-McKinsey-Mann, musste sich für die Vorschläge seines bayerischen Zukunftsrats harsche Kritik aus allen Parteien und den meisten Regionen anhören. Seehofer ruderte in Teilen zurück und will nun gar gleichwertige Lebensverhältnisse für ganz Bayern in der Verfassung festschreiben lassen. Doch Henzler warnt ungerührt davor, "die Dinge treiben zu lassen". Es gebe eine "Abstimmung mit den Füßen". Das Gebot der Stunde sei es, sich auf Schwerpunkte zu konzentrieren.

Übermäßige Härte nennen das die einen, Realismus die anderen. Karl-Heinz Petzinka mag diese Härte, den Rigorismus. Der hochgewachsene, sonnengebräunte Architekt residiert in einem Büro mit deckenhohen Fensterfronten in der früheren Kohlenwäsche der stillgelegten Zeche Nordstern in Gelsenkirchen. Er trägt ein Hemd mit Monogramm und philosophiert über die Zukunft des nördlichen Ruhrgebiets, also jener alten Bergbauregion rund um Städte wie Recklinghausen, bei denen Prognos "Zukunftsrisiken" sieht.

In Deutschlands größtem Ballungsraum lebt der Norden zu einem Gutteil von Staatsgeldern. In den frühen fünfziger Jahren boomte der Kohlebergbau, 1957 gab es rund 140 Steinkohlebergwerke an der Ruhr. In den sechziger Jahren kam die Billigkohle aus China, Osteuropa und den USA, es kamen Erdgas und Öl. Statt konsequent Arbeitsplätze in der Dienstleistungsbranche zu entwickeln, lebte die Region von Kohlesubventionen. Mehr als eine halbe Million Industriearbeitsplätze brachen im Ruhrgebiet in den vergangenen 30 Jahren weg.

"Im Gegenzug zu Holland können wir nicht absaufen"

Petzinka, Professor für Baukunst an der Kunstakademie Düsseldorf und Geschäftsführer zweier Wohnungsbaugesellschaften im Ruhrgebiet, fordert inzwischen auch, dass "dorthin, wo wenig ist, keine weiteren Subventionen fließen sollten".

Der Professor spricht ungern über hohe Arbeitslosenzahlen, abgewanderte Industriebetriebe, verödete Stadtteile. Petzinka redet lieber über Chancen. Und die sieht er für den wirtschaftlich abgehängten Nordrand des alten Ruhrgebiets vor allem in einer Art Wohnlandschaft mit hohem Freizeitwert. Ein Freizeitpark West sozusagen, der von Arbeit nicht allzu sehr gestört wird.

Wo einst das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre begann, sieht Petzinka bereits ein "Paradies für bezahlbares, naturnahes Wohnen" entstehen, mit Seen zum Segeln und dem aufgeforsteten Wald zum Marathon-Training um die Ecke. In der sächsisch-brandenburgischen Lausitz gibt es ein ähnliches Projekt - mit viel Wasser, Luft, Rennboten, aber wenig Menschen und einigen Wölfen.

Andernorts werden Ausländer akquiriert. Emissäre aus Einbeck, Uslar und Dassel tourten Mitte Februar zur Auswanderermesse ins niederländische Utrecht. Sie präsentierten ihre niedersächsischen Gemeinden forsch als attraktive Altersruhesitze, warben mit den niedrigeren Immobilienpreisen, den Vorzügen des Mittelgebirges und Klimasicherheit: "Im Gegenzug zu Holland können wir nicht absaufen." Angeblich ist ein Paar tatsächlich umgezogen.


http://www.mz-web.de/ks/images/mdsBild/1289550857554l.jpg ..... http://www.mz-web.de/ks/images/mdsBild/1295257770669l.jpg

"Forderungen aus der Region verhallen wie Schall und Rauch"

Und wenn es mit dem Zuzug nicht klappt, wird zur Not eben künstlich vergrößert. In Niedersachsen werden aus Gemeinden Samtgemeinden und aus Samtgemeinden Einheitsgemeinden. Ein Gutachter soll sogar die Vorteile einer Großfusion der Landkreise Göttingen, Osterode, Holzminden und Northeim analysieren. Das rettet nicht vor Landflucht, aber spart immerhin Verwaltungsausgaben.

Auf den großen Wurf der Politik warten sie in all diesen abgehängten Regionen der alten Bundesrepublik noch immer. Zumindest funktionieren die bekannten Reflexe aus der guten alten Zeit.

Der Bürgermeister der oberfränkischen Stadt Kronach schrieb gerade einen Brandbrief an Ministerpräsident Seehofer. Er forderte als Reaktion auf die Thesen des Zukunftsrates genau das, was sie dort ablehnen: Finanzhilfen, Gewerbeansiedlungen und eine neue Infrastruktur. Es habe immer wieder den Anschein, jammerte der Kommunalpolitiker, "dass vor allem Forderungen von uns Politikern aus der Region wie Schall und Rauch verhallen".


http://www.echo-online.de/storage/s...q90s1v27319_81-12503389_81-12503389_BILD1.jpg ..... http://www.malennachzahlen24.de/shop_cfg/malennachzahlen/Landleben.jpg
Der Schreck ist ihm in die Glieder gefahren. Die Region Kronach sei schließlich - anders als vom Zukunftsrat vorgeschlagen - stark daran interessiert, "sich nicht irgendwann dem Freistaat Sachsen angliedern zu müssen".
In Dresden werden sie aufgeatmet haben.

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source: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,759062,00.html
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Das Problem der zerfallenden Dörfer und Kleinstädte lassen sich nur mit einer möglichst offensiven und radikalen Geburtenpolitik lösen. Ein einfaches Rechenbeispiel:

Geht man dacon aus, dass im Laufe ihres Lebens etwa ein Drittel aller Menschen aus einer Region in die Stadt zieht (meist so mit 20 Jahren), benötigt man nicht 2,1 sondern etwas über 3 Kinder je Frau, um das Schrumpfen aufzuhalten. Die meisten ländlichen Regionen schaffen davon nur die Hälfte. D.h. ein ländlicher Kreis mit 1,5 Kindern je Frau würde langfristig eine Halbierung der Bevölkerung jede Generation sehen, weil er ja nur die Hälfte des Ersatzniveaus von 3 Kindern je Frau erreicht.


Wenn man allerdings diese beiden Karten (links 1975-1979 wo verfügbar und rechts 2006-2010) zur natürlichen Bevölkerungsbewegung vergleicht, kann man erkennen, dass die großen Städte in den 70ern sich ähnlich schnell durch zu viele Sterbefälle und zu wenig Geburten entvölkert haben wie heute die ländlichen Gebiete. Und in der tat sahen ja Berlin, Hamburg usw. in den 70ern recht zerfallen aus. Im Vergleich zu den 70ern haben die Städte heute eine relativ junge Bevölkerung, die natürlich vom Land kommt. Nordostbayern und Südniedersachsen haben allerdings schon die letzten 40 Jahre mit hohen Geburtendefiziten zu kämpfen. Der restliche ländliche Raum kennt dieses Phänomen erst seit 15 Jahren:


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Das Problem der zerfallenden Dörfer und Kleinstädte lassen sich nur mit einer möglichst offensiven und radikalen Geburtenpolitik lösen.
wird nicht passieren ...

Die meisten koennen sich ja nicht mal vorstellen, 50 Mio. Chinesen (bzw. ein Gemisch aus konstruktiveren Migranten) einzubringen, was in Relation nur etwas mehr waere als Spanien in der kuerzlichen Vergangenheit an Zuwanderung hatte. Dabei waere das total simpel realisierbar und auf einen Schlag waeren die meisten Demographieprobleme geloest, Deutschland auf einen Schlag auch vom Status Quo her noch potenter ...

Aber schon so einfachst realisierbare, naheliegende Dinge, sind schon gar nicht mehr vermittelbar. Derlei wirklich zu tun, uebersteigt die Vorstellungskraft. Daher nenne ich das auch immer Klein-Klein-Denken.

Und derlei strukturelle, laengst voellig dekadente Fehlpraegung kriegt man auch nicht so schnell wieder raus. Die meisten aelteren, die ja fuer diese Fehlpraegung verantwortlich sind, koennen gar nicht mehr anders. Die in Relation geringere Anzahl an juengeren sind bereits selbst so spiessig und kleingerichtet. Das wird auf absehbare Zeit nix. Vielleicht, wenn die ganzen aelteren oeko-sozialistischen Strukturen ausgestorben sind, neue juengere Generationen auch an Zuwanderungen gegen die heute spiessige junge Generation aufbegehrt ... derlei muss sich erst auswachsen.

Und genau deshalb wird es keine offensiven oder radikalen Loesungen geben, weder bei diesem noch bei anderen Themen. Es wird reaktionaer agiert, der Entwicklung hinterherbastelt. Aktionistisch ein bisschen Geld fuer Symbolpolitik verschwendet und ansonsten wird das meiste der Entwicklung hinterhergebastelt werden = ueber mehrere Wellen werden die meisten Doerfer und ein grosser Teil der Kleinstaedte draufgehen ...

Geht man dacon aus, dass im Laufe ihres Lebens etwa ein Drittel aller Menschen aus einer Region in die Stadt zieht (meist so mit 20 Jahren), benötigt man nicht 2,1 sondern etwas über 3 Kinder je Frau, um das Schrumpfen aufzuhalten. Die meisten ländlichen Regionen schaffen davon nur die Hälfte. D.h. ein ländlicher Kreis mit 1,5 Kindern je Frau würde langfristig eine Halbierung der Bevölkerung jede Generation sehen, weil er ja nur die Hälfte des Ersatzniveaus von 3 Kindern je Frau erreicht.
das ist ungeraehr schon richtig ueberschlagen, aber selbst bei 5 Kindern wuerden kleine Doerfer und viele Kleinstaedte absterben ...
Egal ob man in Frankreich (waechst) oder UK (waechst) oder USA (waechst) guckt oder in Germany, ueberall gibt es neben der Demographie auch eine andere Gesellschaft, die nicht mehr wie frueher ihr Leben in ihrem Dorf bleiben, , sondern loszieht ...

Daher sehe ich die einzige Chance in bestimmten europaeischen/internationalen Klientels ...
Deutschland/Europa hat im Unterschied zu vielen anderen Laendern auf dem Land bzw. gerade den Kleinstaedten etwas anzubieten ...
Aber wie erwaehnt: ich denke nicht, dass dieses Potential gross genutzt wird ...

Germanys meiste Chance liegt sowieso in der Europaeisierung, dass sich naemlich durch weitere Mobilitaet bzw. Binnenwanderungsgewoehnung immer wieder ein Teil Europas in die aus dieser Perspektive wohlhabenderen zentralen Ballungszentren fliesst (wozu gerade Deutschland gehoert) ... aber ich denke, dass die meisten - wie ja frueher bereits unde heute auch - in die Ballungsraeume gehen ...

Wenn man allerdings diese beiden Karten (links 1975-1979 wo verfügbar und rechts 2006-2010) zur natürlichen Bevölkerungsbewegung vergleicht, kann man erkennen, dass die großen Städte in den 70ern sich ähnlich schnell durch zu viele Sterbefälle und zu wenig Geburten entvölkert haben wie heute die ländlichen Gebiete.
Nein, denn zwar ging dort bereits das demographische Problem los, aber das wurde durch die Zuwanderung aufgefangen. Und die ging bereits tendenziell in die Ballungsraeume. Was es gab waren Tendenzen von der Stadt in den Speckguertel zu ziehen, weshalb auch diese so gross sind (siehe London, Paris, aber auch auf kleinerem Niveau, Muenchen, Mailand, Hamburg, Stuttgart, Frankfurt, Wien, New York, Tokyo, Stockholm etc.) ...

Und in der tat sahen ja Berlin, Hamburg usw. in den 70ern recht zerfallen aus.
Ne eigentlich nicht ... im Gegenteil ging der grosse Wohnungsbau mit den Satellitenstaedten erst richtig los, eben wegen des grossen Zuzugs ...

Die Situation auf dem echten Land, also ferner von den Ballungsraeumen ist im Grunde schon lange eine schleichende Erosion. Die zunehmende Moderne liess mehr und mehr Menschen in die Ballungsraeume ziehen. Es fiel zunaechst nur nicht sehr stark auf, da ja vorhandene Generationen noch laenger lebten, zunaechst auch noch staerkere Bindekraefte gegenwirkten ... aber die Tendenz war schon da ...
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Landstriche koennen meinetwegen entvoelkert werden. Es ist oekologisch ohnehin besser, die bevoelkerung auf Ballungszentren zu konzentrieren.
Korrekt, SheJot. Es ist auch ökonomisch sinnvoller.
Wenn man allerdings diese beiden Karten (links 1975-1979 wo verfügbar und rechts 2006-2010) zur natürlichen Bevölkerungsbewegung vergleicht, kann man erkennen, dass die großen Städte in den 70ern sich ähnlich schnell durch zu viele Sterbefälle und zu wenig Geburten entvölkert haben wie heute die ländlichen Gebiete. Und in der tat sahen ja Berlin, Hamburg usw. in den 70ern recht zerfallen aus. Im Vergleich zu den 70ern haben die Städte heute eine relativ junge Bevölkerung, die natürlich vom Land kommt.
Ist schon interessant. Selbst das so beliebte München hat, was die Zahl der Einwohner angeht, von 1973 bis 1998 Ader gelassen (nicht sehr viel, aber immerhin etwas über 10%). Danach drehte der Trend um. Erst 2010 hat München wieder den einstigen Höchststand überschritten.
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Hängt vermutl. mit gewissen Trends im Lebensstil (Suburbanisierung) zusammen. Die umliegenden Landkreise nahmen ja zu.
Viele sind in den 70ern und 80ern in die Vorrrte gezogen. Zur Zeit ziehen viele aus den Vororten in die Stadt. Aktuell sind wir schon über 1,4 Millionen. Die Vorrte wachsen auch. Bald 3 Millionen im S-Bahnbereich. Wenn man noch Vororte wie Berlin, Paris und Itsanbul miteinbezieh kommt man locker auf eine halbe Milliarde Einwohner im Einzugsgebiet.
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Landstriche koennen meinetwegen entvoelkert werden. Es ist oekologisch ohnehin besser, die bevoelkerung auf Ballungszentren zu konzentrieren.
Korrekt, SheJot. Es ist auch ökonomisch sinnvoller.
da gebe ich euch prinzipiell recht - quasi als Grundherangehensweise ...
im Detail bedeutet das aber ja nicht, das man nicht durch konstruktive Methoden versuchen kann trotzdem gewisse Highlites an Staedtchen und Orten zu retten, gleichzeitig nebenbei den Standort Germany etwas zu puschen. Der hat ja mehrfach etwas davon, wenn Leute hier investieren, Geld ausgeben, die Demographie relativieren, bestimmte aeltere Strukturen als Attraktionen erhalten bleiben ...

Etwas anderes waere die Frage, ob man Geld in Unrettbares verschwenden sollte bzw. die grundsaetzliche Infrastruktur auf Rettung abstellen.
Das sollte man tunlichst vermeiden ...
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